Während Sie diese Sitzung weiter durcharbeiten, möchten wir Sie bitten, weiterhin angstauslösende Situationen und Themen zu identifizieren und im entsprechenden Protokoll zu notieren.
Bisher wurden mögliche Ursachen der übertriebenen Ängste dargestellt. Wichtiger für die Behandlung ist die Frage, wie die Ängste im Hier und Jetzt aufrechterhalten werden. An den aufrechterhaltenden Faktoren, die im Folgenden erklärt werden, setzt das vorliegende Programm vor allem an.
Angststörungen sind immer mit vielen negativen Gedanken und Befürchtungen verbunden, die über verschiedene Prozesse ganz unmittelbar die Angst verstärken und sich negativ auf das Verhalten auswirken. Auf diese angstverstärkenden Prozesse wird später im Zusammenhang mit dem Teufelskreismodell der Angst genauer eingegangen. An dieser Stelle sollen zunächst typische Gedanken aufgeführt werden, die mit Angststörungen einhergehen.
Typische Gedanken und Befürchtungen sozial ängstlicher Menschen sind, dass andere sie für dumm halten, dass sie zu stammeln anfangen, wenn sie in einer Diskussionsrunde einen Beitrag leisten, oder dass sie in sozialen Situationen durch Schwitzen oder Zittern peinlich auffallen.
Typischerweise spielen sozial ängstliche Menschen negative Gedanken schon durch, bevor sie in eine schwierige Situation kommen. Sie machen sich Gedanken, was alles Schlimmes passieren könnte, und wie sie mit der Situation umgehen könnten. Das führt dazu, dass sozial ängstliche Menschen schon im Vorfeld einer problematischen Situation angespannt und ängstlich sind.
In der Situation dann machen sich sozial ängstliche Menschen negative Gedanken darüber, wie sie wirken und malen sich aus, was andere über sie denken. Im Anschluss lassen sie die Situation noch einmal Revue passieren und machen sich viele Gedanken über den Eindruck, den sie hinterlassen haben.
Es ist ein wichtiges Ziel der wirksamsten Therapieform bei Angststörungen, der kognitiven Verhaltenstherapie, die problematischen Gedanken zu identifizieren und zu verändern. Mehr zu diesem Ansatz erfahren Sie in dieser Sitzung im Kapitel «Behandlung».
Eine wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung von Angststörungen spielen bestimmte Aufmerksamkeitsprozesse, die bei Menschen mit Angststörungen wissenschaftlich gut belegt sind.
Für ängstliche Menschen ist die sogenannte selbstfokussierte Aufmerksamkeit typisch. Hierbei wird die Aufmerksamkeit einseitig auf innere Ereignisse, d.h. auf eigene Gefühle, auf den eigenen Körper, auf eigene Gedanken, aber auch auf das eigene Verhalten gerichtet. Auf das, was «draussen» um einen herum geschieht, wird weniger geachtet. Anders ausgedrückt: Betroffene beobachten sich sehr stark selbst.
Bei Menschen mit Sozialen Ängsten äussert sich dies darin, dass sie sich vor und während sozial bedrohlichen Situationen vor allem mit ihrem eigenen Verhalten («Ich werde etwas Blödes sagen und stottern»), dem eigenen Aussehen und dem Eindruck, den sie auf andere machen («Die anderen sehen, dass ich nervös bin»), den körperlichen Symptomen («Ich beginne zu schwitzen») und den Gefühlen («Oh je, meine Angst nimmt schon wieder zu. Ich halte das nicht aus») beschäftigen.
Die Konzentration auf den eigenen Körper verstärkt das Auftreten von körperlichen Symptomen, die man eigentlich verhindern möchte. Wenn Sie sich z.B. auf Ihr Gesicht konzentrieren und versuchen Erröten zu verhindern, verstärkt dies das Erröten. Auch andere Symptome der Nervosität wie Zittern, Schwitzen oder erhöhter Herzschlag können durch übermässige Selbstaufmerksamkeit verstärkt werden. Im Weiteren werden körperliche Empfindungen, die normalerweise völlig unbeachtet bleiben (z.B. leichte Kopfschmerzen, leichter Schwindel nach einer Tasse Kaffee, leicht erhöhter Herzschlag), in den Mittelpunkt des Bewusstseins gerückt und viel intensiver wahrgenommen als dies üblicherweise der Fall ist. Die Beobachtung und Überwachung der eigenen Person haben also einen gegenteiligen Effekt.
Wenn Sie Ihre Aufmerksamkeit ganz auf sich selbst richten, nehmen Sie die Umwelt nicht wahr. Viele, auch positive Dinge, die um Sie herum geschehen, kriegen Sie dann gar nicht mit. Betroffene nutzen stattdessen die eigenen Symptome und Gedanken als Hinweis, dass etwas nicht stimmt. Sie denken z.B.: «Ich bin nervös, also stimmt etwas nicht.» Die Angstsymptome und negativen Gedanken werden also als Informationsquelle genutzt, um einzuschätzen, wie gefährlich eine Situation ist, was alles passieren könnte oder wie Sie auf andere wirken. Aufgrund der Angst und der damit verbundenen körperlichen Symptome kommen Betroffene so meistens zum Schluss, dass eine Situation negativ, bedrohlich oder gefährlich ist. Wenn Sie z.B. einen Vortrag halten und vor allem auf Ihre negativen Gefühle (die Angst/Nervosität) und nicht auf die Reaktion des Publikums achten, müssen Sie zum Schluss kommen, dass der Vortrag schlecht ist und Sie negativ auf andere wirken. Selbst dann, wenn das Publikum eigentlich ganz positiv reagiert. Der beschriebene Prozess kann also zu gravierenden Fehleinschätzungen der Situation führen.
Die Beschäftigung mit sich selbst bindet Aufmerksamkeitskapazitäten. Dies erschwert es, spontan und angemessen auf die Anforderungen einer Situation zu reagieren. Man fühlt sich leicht überfordert und kann nicht mehr klar denken.
Neben der erhöhten Selbstaufmerksamkeit konnte gezeigt werden, dass Betroffene auch sehr empfindlich auf potentiell gefährliche Situationen und Ereignisse in der Umwelt reagieren und ihre Aufmerksamkeit automatisch, rasch und lange auf potentiell bedrohliche Reize richten. Wenn zum Beispiel eine sozial ängstliche Person einer Gruppe von Menschen begegnet, wird diese Person verstärkt auf die gelangweilten und genervten Gesichter achten, und weniger auf die lächelnden Gesichter.
Da die beschriebenen Aufmerksamkeitsprozesse ganz entscheidend zur Aufrechterhaltung der Ängste beitragen, wird in dieser Sitzung unter «Behandlung» genauer auf diese meist automatischen Prozesse eingegangen.
Verständlicherweise versuchen Betroffene angstauslösenden Situationen auszuweichen bzw. sie zu vermeiden. Kurzfristig führt das Vermeidungsverhalten zwar zu einer Abnahme der Angst. Längerfristig werden die negativen Gedanken, Erwartungen und Befürchtungen aber nicht mehr überprüft und die Angst wird aufrechterhalten. Im Weiteren führt Vermeidung dazu, dass man sich in seinem Leben einschränken muss und bestimmte Dinge nicht mehr tun kann. Dies führt nicht selten zu Folgeproblemen wie Niedergeschlagenheit und Einsamkeit.
Beispiele von Situationen und Verhaltensweisen, die sozial ängstliche Menschen vermeiden, sind:
Wenn angstauslösende Situationen nicht vermieden werden können, versuchen viele Betroffene mit sogenanntem Sicherheitsverhalten die befürchtete Katastrophe abzuwenden.
Wenn ein sozial ängstlicher Mensch nicht vermeiden kann, in einer Gruppe etwas zu sagen (z.B. Vorstellungsrunde), wird er wahrscheinlich den Satz, den er sagen wird, vorher im Kopf mehrmals proben. Wenn trotz Angst eine Feier besucht wird, setzt sich dieser Mensch vielleicht eher in eine Ecke, bewegt sich wenig, geht oft auf die Toilette, vermeidet über sich selbst zu sprechen, vermeidet Blickkontakt etc. Wenn er Angst hat zu erröten, trägt er vielleicht nur hoch geschlossene Kleidung, kühlt sein Gesicht häufig mit kaltem Wasser, öffnet oft das Fenster etc. Dieses Sicherheitsverhalten soll auffälliges und peinliches Verhalten verhindern und eine Blamage abwenden.
Sicherheitsverhalten verhindert, dass Erfahrungen gemacht werden können, die die Ängste und Befürchtungen tatsächlich und vollständig in Frage stellen. Werden in einer Diskussionsrunde die Sätze vorher im Kopf zurechtgelegt (= Sicherheitsverhalten), wird sich ein sozial ängstlicher Mensch nach der Diskussion sagen: «Das hat nur geklappt, weil ich mir jeden Satz vorher genau überlegt habe.» Die Befürchtung, in Diskussionsrunden nicht spontan reagieren zu können, wird dadurch nicht hinterfragt.
Sicherheitsverhalten hat oft den gegenteiligen Effekt. Das heisst, die befürchteten Konsequenzen, die eigentlich verhindert werden sollten, treten sogar noch eher ein. Wenn sozial ängstliche Menschen schnell sprechen, um Nachfragen zu vermeiden, bemerken sie oft nicht, dass das schnelle Sprechen das Verständnis erschwert und erst recht Nachfragen provoziert. Eine Verstärkung der Symptomatik durch Sicherheitsverhalten entsteht oft auch durch die damit verbundene erhöhte Selbstaufmerksamkeit. Wenn Sie dauernd überprüfen, ob Sie alle Sicherheitsmassnahmen getroffen haben, alles dabeihaben, sich gut vorbereitet haben, alles richtig machen, Körpersymptome kontrollieren und einen guten Eindruck machen, erfordert dies Selbstbeobachtung und verstärkt wie bereits erwähnt die Ängste.
Sicherheitsverhalten kann auch einfach schädlich sein. So dämpfen Beruhigungsmittel und Alkohol, die zur Angstlinderung eingenommen werden, zwar die Angstsymptome für einige Stunden, sie führen aber langfristig zu einer gefährlichen Abhängigkeit.
Da Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten ganz entscheidend zur Aufrechterhaltung der Ängste beitragen, enthält das Kapitel «Behandlung» in dieser Sitzung weiter Informationen zu diesen Verhaltensweisen.