Angst geht mit Reaktionen auf drei Ebenen einher. Da bei der Behandlung von Angststörungen an allen Ebenen angesetzt wird, soll hier eine Vorstellung der drei Ebenen entwickelt werden. Bei den drei Reaktionsebenen handelt es sich um:
Auf allen drei Ebenen zielen die Reaktionen letztlich darauf ab, den Organismus in Gefahrensituationen rasch auf eine maximale Leistungs- und Handlungsbereitschaft vorzubereiten und ihn zu schützen. Die Angstreaktionen auf den drei Ebenen hängen zwar zusammen, die Bedeutung der einzelnen Komponenten ist aber von Mensch zu Mensch verschieden. Manche nehmen mehr die körperlichen Anteile der Angst wahr, während andere mehr die Gedanken- und Verhaltensebene wahrnehmen. Die drei Ebenen der Angst werden im Folgenden genauer erklärt.
Angst erregt Teile des sogenannten vegetativen bzw. autonomen Nervensystems, welches weitgehend selbständig, d.h. automatisch und ohne willentliche Kontrolle, viele körperliche Vorgänge beeinflusst. Dazu gehören Funktionen von Herz und Kreislauf, Atmung, Magen und Darm sowie Haut und Drüsen. Das autonome Nervensystem besteht aus zwei Unterteilungen bzw. Ästen, dem Sympathikus und dem Parasympathikus.
Der Sympathikus ist ein Kampf-Flucht-System, welches in einer Schreck- und Gefahrensituation aktiviert wird und Energie freisetzt. Der Parasympathikus sorgt für Entspannung und versetzt den Körper nach der Aktivierung des Sympathikus wieder zurück in den Normalzustand.
Die Aktivierung des Sympathikus in einer Gefahrensituation führt zu einer Freisetzung von chemischen Botenstoffen und Stresshormonen. Dabei handelt es sich vor allem um Adrenalin, aber auch Noradrenalin, Cortisol und Kortison, die rasch Veränderungen an verschiedenen Organen bewirken. Als Vorbereitung auf körperliche Aktivität wird der Herzschlag verstärkt und die Herzfrequenz erhöht, was den Blutkreislauf beschleunigt und den Transport von Sauerstoff ins Gewebe und den Abtransport von Stoffwechselprodukten aus dem Gewebe verbessert. Gleichzeitig verengen sich die Blutgefässe an Stellen, an denen das Blut kurzfristig nicht unmittelbar gebraucht wird, zum Beispiel in der Haut, an den Fingern und den Zehen. Die Haut sieht bei Angst folglich oft blass aus. Ausserdem werden Finger und Zehen häufig kalt und fühlen sich taub und kribblig an.
Das Blut wird in Gefahrensituationen vor allem zu den grossen Muskeln transportiert, wie zum Beispiel den Oberschenkeln und zum Bizeps. Das hilft dem Körper, sich auf Kampf oder Flucht vorzubereiten. Da das Gewebe in solchen Momenten auch mehr Sauerstoff benötigt, ist mit der Aktivierung des Sympathikus auch eine schnellere Atmung verbunden. Die verstärkte Atmung kann mit dem Eindruck von Atemlosigkeit oder gar Erstickungsgefühlen sowie Schmerzen und Beklemmung in der Brust einhergehen. Mit der Angstreaktion wird auch die Sauerstoffversorgung des Gehirns kurzzeitig etwas heruntergesetzt (während der Flucht mussten unsere Vorfahren nicht denken). Die reduzierte Versorgung des Gehirns kann mit einer ganzen Reihe unangenehmer, aber ungefährlicher Symptome verbunden sein, wie z.B. Schwindel, Benommenheit, verschwommenes Sehen, Gefühle der Unwirklichkeit und Hitze- oder Kältewallungen.
Eine ganze Reihe anderer körperlicher Symptome werden durch die Aktivierung des Sympathikus produziert, wie z.B. vermehrtes Schwitzen, verminderter Speichelfluss, angespannte Muskeln und eine heruntergesetzte Aktivität des Verdauungssystems. Die Kampf-Flucht-Reaktion verursacht damit auch einen trockenen Mund, Anspannung und ein Schweregefühl im Magen oder Verstopfung. Zwei Aspekte sind im Zusammenhang mit der Aktivierung des Sympathikus wichtig zu wissen:
Erstens wird nach einer gewissen Zeit immer und automatisch das parasympathische Nervensystem aktiviert, um einen entspannten Zustand wiederherzustellen. Angst kann also weder für immer andauern, noch kann sie sich endlos aufschaukeln. Der Körper geht bei automatischen Reaktionen nie über seine Leistungsgrenzen hinaus. Mit dem Parasympathikus hat er einen Schutz eingebaut, der das sympathische Nervensystem stoppt. Mehr dazu folgt in dieser Sitzung in Kapitel «Behandlung».
Zweitens wird eine gewisse Zeit benötigt, bis chemische Substanzen wie Adrenalin oder Noradrenalin, die mit der Aktivierung des Sympathikus freigesetzt werden, abgebaut sind. Nach einer Angstreaktion und auch wenn die Gefahr vorüber ist, fühlen Sie sich also noch eine Zeit lang angespannt und aufgeregt, weil die Substanzen im Blut noch nicht abgebaut sind. Die körperlichen Symptome nach einer Angstreaktion sind aber absolut natürlich und ungefährlich. Dieses Funktionieren hat sich bei unseren Vorfahren in der freien Natur bewährt, da dort die Gefahr häufig wiederkehrte.
Unsere Stimmung, unsere Gefühle und unser Verhalten werden in starkem Masse davon beeinflusst, wie wir über etwas denken. Beim Gedanken, dass ich mich vor anderen blamiere, können Angst und Scham aufkommen. Bei sorgenvollen Gedanken, dass Menschen, die mir etwas bedeuten, etwas zustossen könnte, können Angst und Verzweiflung ausgelöst werden. Menschen bewerten alle ihre Erlebnisse. Diese Interpretationen bzw. Gedanken bestimmen mit, was und wie intensiv wir fühlen.
Stellen Sie sich vor, Sie wandern einen Berg hinauf. Auch wenn das Herz schneller zu schlagen beginnt, sind Sie nicht beunruhigt, da Sie denken, dass sich der schnellere Herzschlag mit der Anstrengung begründen lässt. Tritt der schnellere Herzschlag in einer anderen Situation auf, z.B. wenn Sie zu Hause auf dem Sofa sitzen, kann der Herzschlag besorgniserregende Gedanken auslösen. Das gleiche Symptom kann ganz unterschiedlich bewertet werden und damit zu ganz unterschiedlichen Gefühlen führen.
Manchmal sind unsere Gedanken, Bewertungen und Interpretationen nicht richtig und lösen ungerechtfertigt Angst, Scham, Trauer, Verzweiflung oder Wut aus. Wenn wir auf der Strasse einer lachenden Person begegnen und denken, dass wir ausgelacht werden, können grundlos negative Gefühle entstehen. Die Bewertung unserer Erlebnisse und Erfahrungen kann nicht nur in einzelnen Gedanken, sondern in regelrechten «Selbstgesprächen» geschehen. Selbstgespräche wie: «Ich kann das nicht, ich schaffe das nicht, ich habe es nie geschafft und ich werde es auch nie schaffen», können eine schlechte Stimmung vermitteln und uns bei der erfolgreichen Bewältigung des Alltags stark behindern.
Ängstliche Menschen machen sich oft auch schon vor und nicht nur während einer schwierigen Situation viele, meist negative Gedanken. Sie stellen sich vor, was alles Schlimmes passieren könnte. Dadurch sind sie schon im Vorfeld einer schwierigen Situation angespannt und ängstlich. Auch nach einer schwierigen Situation machen sie sich oft viele negative Gedanken. In der Folge kann eine Situation im Nachhinein noch negativer bewertet werden als während der Situation. Solche negativen Gedanken und Selbstgespräche tragen ganz wesentlich zur Verstärkung und Aufrechterhaltung von Ängsten bei.
Neben der körperlichen und gedanklichen Ebene haben Angstgefühle auch noch eine motorische Ebene bzw. eine Verhaltensebene. So wird Angst und Unruhe auf einer motorischen Ebene häufig von Zittern oder einer unsicheren Stimme begleitet. Aufgrund der starken Erregung entsteht oft ein starker Handlungsdrang, der sich z.B. in unruhigem Umherlaufen äussern kann. Andererseits kann die Angst sogar lähmen: Die Person ist wie erstarrt und handlungsunfähig. Häufig sind auch Konzentration und Durchhaltevermögen beeinträchtigt. Leistungen, die Konzentration oder Geschicklichkeit erfordern, z.B. lesen, eine schwierige Aufgabe erfüllen oder auch vor anderen Menschen reden, sind dadurch ebenfalls beeinträchtigt. Diese können nur unter grösster Anstrengung erbracht werden oder müssen sogar kurzzeitig unterbrochen werden.
Auf der Verhaltensebene ist Angst oft mit dem Vermeiden von bzw. dem Flüchten aus angstauslösenden Situationen verbunden. Manche Menschen lernen ganz grundsätzlich Situationen zu vermeiden, in welchen sie Angst erlebt haben, oder von denen sie denken, dass sie Angst erleben würden. Andere Menschen wiederum verlassen die Situationen, in denen sie Angst bekommen. Sie laufen weg.
Kann eine angstauslösende Situation nicht vermieden werden, lässt sich oft sogenanntes Sicherheitsverhalten beobachten. Damit ist gemeint, dass viele Menschen angstauslösende Situationen nur dann überstehen können, wenn sie bestimmte Hilfsmittel immer bereithalten oder Verhaltensweisen zeigen, die ihnen eine gewisse Sicherheit geben. Beispiele für solche Hilfsmittel sind das ständige Mittragen von Wasser gegen Übelkeit oder eines Beruhigungsmittels «für den Notfall». Bereits das Wissen, diese Hilfsmittel bei sich zu tragen, vermittelt ein Sicherheitsgefühl und macht Menschen mutiger. Andere Sicherheitsverhaltensweisen sind sich fluchtbereit in Türnähe zu setzen, sich nur in einer bekannten Umgebung zu bewegen, sich sehr gut auf eine Rede oder einen Vortrag vorzubereiten, sich Aussagen oder Sätze vorher innerlich vorzusprechen und auswendig zu lernen oder sich in einem Restaurant in eine Ecke und auf keinen Fall in die Mitte zu setzen. Allgemein kann gesagt werden, dass Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten Menschen noch anfälliger für Ängste machen und entscheidend zur Aufrechterhaltung der Ängste beitragen.