Warum entwickeln Menschen eine Angststörung? Was sind die Ursachen und Auslöser? – Eine einfache Antwort gibt es nicht. Die Ursachen für die Entwicklung von Angststörungen sind vielfältig und von Person zu Person verschieden.
Angst stellt grundsätzlich eine biologisch sinnvolle Reaktion mit hohem Überlebenswert dar, indem die Angst Gefahr signalisiert und hilft, diese zu vermeiden. Es ist somit nicht erstaunlich, dass es eine biologische bzw. genetische Basis für Angst gibt. Ein Teil ausgeprägter Ängste ist also vererbt. Der andere Teil kann auf die Umwelt bzw. auf individuelle Lebenserfahrungen zurückgeführt werden. Prägend wirken unter anderem das elterliche Verhalten und spezifische «traumatische» Erfahrungen.
Vererbte biologische Risikofaktoren und prägende Erfahrungen in der Kindheit und Jugend stellen sogenannte Vulnerabilitätsfaktoren für die Entwicklung einer Angststörung dar. Sie können einen Menschen «verletzlicher» machen und damit die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass jemand eine Angststörung entwickelt. Zum Auftreten einer Angststörung kommt es allerdings oft erst dann, wenn Belastungen und Stress in Beruf, Familie und Alltag hinzukommen.
Auf diese verschiedenen Faktoren wird im Folgenden genauer eingegangen.
Die Forschung zeigt, dass ein Teil der Ängstlichkeit eines Menschen vererbt ist. D.h. manche Menschen sind «von Natur aus» ängstlicher als andere. Im Weiteren wird davon ausgegangen, dass nicht eine spezifische Angststörung vererbt wird, d.h. es gibt keine biologische Veranlagung für eine Soziale Angststörung. Vielmehr werden die allgemeine Emotionalität und die Sensibilität für Angst vererbt. Es gibt Menschen, die von Geburt an sehr sensibel und emotional sind, Menschen, die überhaupt nicht sensibel sind, und die grosse Masse liegt irgendwo dazwischen. Menschen mit Angststörungen sind typischerweise sehr sensibel. Die hohe Sensibilität hat den Nachteil, dass sie verletzlich für die Entwicklung einer Angststörung macht. Sie hat aber auch Vorteile: Menschen mit diesem Persönlichkeitsmerkmal können sich typischerweise gut in andere Menschen einfühlen und sind oft herzlich, verständnis- und vertrauensvoll.
Eine Veränderung der vererbten Sensibilität und Emotionalität ist sehr schwierig (wenn nicht unmöglich). Entsprechend zielt dieses Programm auch nicht auf deren Veränderung ab. Das wäre nicht gut und auch nicht nötig! Erstens macht Sie Ihre Emotionalität und Sensibilität zu einer einzigartigen Person. Sie würden Ihre Bekannten vor den Kopf stossen, wenn Sie plötzlich eine andere Person wären. Und zweitens bedeutet eine hohe Sensibilität noch lange nicht, dass sich übertriebene Ängste entwickeln und aufrechterhalten müssen oder nicht verändert werden können.
In diesem Programm wird es vor allem darum gehen, die negativen Konsequenzen der hohen Angstsensibilität, d.h. die übertriebenen und nicht kontrollierbaren Ängste besser bewältigen zu lernen. Die positiven Seiten, wie beispielsweise Ihr Einfühlungsvermögen, sollten Sie sich bewahren.
Aufgrund Ihrer Gene sind Sie also wahrscheinlich eine relativ sensible und emotionale Person. Damit lässt sich die Entwicklung einer Angststörung aber noch nicht erklären, denn viele sensible Menschen leiden nicht unter ausgeprägten Ängsten. Warum entwickeln manche Menschen psychische Probleme und andere nicht? – Die Antwort lässt sich wahrscheinlich in der Umwelt finden: Die Lebensumstände und individuellen Erfahrungen entscheiden, was aus der hohen Sensibilität wird.
Zu den Erfahrungen, die die Angstbereitschaft beeinflussen, gehören familiäre Erziehungs- und Beziehungsmuster. Interessanterweise und entgegen teils geäusserten Vorstellungen sind Angststörungen gemäss verschiedenen Studien typischerweise NICHT mit einer besonders schwierigen Kindheit, mit Gewalt in der Erziehung, sexuellen Übergriffen oder besonders harten Schicksalsschlägen verbunden. Vielmehr werden die Eltern von ängstlichen Erwachsenen oft als überaus behütend, teils auch kontrollierend beschrieben. Mit anderen Worten: Die Eltern waren in vielen Fällen sehr fürsorglich. Sie wurden teilweise aber auch als einmischend und einengend erlebt.
Bevor Sie jetzt zu Ihren Eltern rennen und sie für Ihre Ängste verantwortlich machen, ist es wichtig zu erwähnen, dass Sie wahrscheinlich nicht ängstlich wurden, weil Ihre Eltern sehr fürsorglich und kontrollierend waren. Genauso wahrscheinlich ist, dass Eltern sehr fürsorglich werden, wenn ihr Kind sensibel ist. Mögliche Ursachen und Wirkungen verstärken sich in einem Teufelskreis und es gibt nachvollziehbare Gründe, weshalb sich Eltern auf eine bestimmte Weise verhalten. Kommt hinzu, dass die Eltern ängstlicher Kinder selbst auch eher ängstlich sind (die Sensibilität ist ja vererbt!) und deshalb auch eher versuchen, dem Kind zu helfen.
Weshalb aber kann fürsorgliches und behütendes Verhalten der Eltern Ängste verstärken? – Eine mögliche Erklärung liegt darin, dass überbehütete Kinder nur selten Erfahrungen machen können, die selbstwertsteigernd sind. Dem überbehüteten Kind wird vieles abgenommen und nur selten kann es die Erfahrung machen, dass es Schwierigkeiten auch selbst bewältigen kann. Zudem enthält ausgesprochen fürsorgliches Verhalten die Botschaft, dass die Eltern dem Kind die selbständige Lösung eines Problems nicht zutrauen. Als Konsequenz wird das Kind noch abhängiger, wird noch mehr Hilfe beanspruchen und die Eltern werden noch fürsorglicher. Auch hier besteht ein Teufelskreis und auch hier gibt es keinen Grund, die Konfrontation mit den Eltern zu suchen oder ihnen die Schuld zuzuschieben. Wenn die erwähnte Theorie stimmt – und es gibt noch viele Unklarheiten – haben sich Ihre Eltern aus verschiedenen Gründen so verhalten, wie sie sich verhalten haben. Es ist ganz bestimmt nicht der Fehler Ihrer Eltern! Ausserdem ist das Vergangenheit und es macht bezüglich Behandlung keinen Unterschied, ob es nun genauso war oder auch nicht.
Eltern oder auch andere nahestehende Personen vermitteln wichtige Rollenmodelle. Viele ängstliche Verhaltensweisen können durch Beobachtung und durch das Nachahmen des Verhaltens wichtiger Bezugspersonen erlernt worden sein. Beobachtungslernen kann im Gegensatz zur relativ unspezifischen vererbten Veranlagung zur Angstsensibilität möglicherweise bestimmen, welche Art der Angststörung entwickelt wird.
Viele sozial ängstliche Menschen haben auch sozial ängstliche Eltern. Als Beispiel sei hier ein 12-jähriges Mädchen erwähnt, welches in Therapie kam, weil sie sich extrem sorgte, Fehler zu machen. Das Mädchen versuchte deshalb alles immer perfekt zu machen, was sie auch davon abhielt, das Leben zu geniessen. In die erste Sitzung kam sie mit ihren Eltern eine halbe Stunde zu früh. Gefragt, weshalb sie so früh seien, sagte die Mutter: «Wir wollten absolut sicher sein, dass wir nicht zu spät sind.»
Neben Beobachtungslernen können auch einzelne konkrete Erlebnisse zur Entwicklung einer Angststörung beitragen. So berichten z.B. viele Panikpatient*innen von traumatischen, lebensbedrohlichen Erstickungserlebnissen in ihrer Lebensgeschichte, wie z.B. beinahe zu ertrinken oder bei Hustenanfällen oder Verschlucken fast zu ersticken. Menschen mit Sozialen Angststörungen wiederum berichten oft über soziale «Traumata», wie zum Beispiel von Mitschüler*innen wegen abweichendem Aussehen (z.B. Übergewicht, Akne, Ohren/Nasen), ungewöhnlichem Namen oder Akzent/sprachlichen Besonderheiten ausgelacht oder gehänselt worden zu sein. Andere wurden von Lehrerpersonen öffentlich abgewertet, erhielten beim ersten Flirt eine harte Abfuhr oder erlebten beim Reden, Essen, Trinken oder Schreiben vor anderen Personen auffällige körperliche Symptome (Schwitzen, Zittern, Erröten).Die Veranlagung, die Erziehung, das Beobachtungslernen und spezifische Erfahrungen können einen Menschen vulnerabler bzw. verwundbarer für die Entwicklung einer Angststörung machen. Zum Ausbruch einer Störung kommt es aber oft erst dann, wenn belastende Ereignisse in Alltag, Beruf oder Familie hinzukommen. Viele Betroffene von starken Ängsten berichten, dass sie vor dem Auftreten der Störung im Alltag oder Beruf stark beansprucht und gestresst waren. Zum Bespiel waren sie gerade umgezogen, hatten Partnerschaftsprobleme, eine Trennung, Scheidung oder einen Todesfall zu verarbeiten, kranke Angehörige zu pflegen oder eine neue Arbeitsstelle anzutreten. Aber auch positive Ereignisse wie eine Hochzeit oder eine Geburt können subjektiv zu einer Belastung werden und dem Ausbruch einer Angststörung vorausgehen.
Starke Angst stellt letztlich eine massive Stressreaktion dar, die uns in gefährlichen, belastenden und neuen Situationen auf besonders leistungsfähiges Handeln vorbereitet. Der enge Zusammenhang zwischen Belastung bzw. Stress und dem Ausbruch einer Angststörung ist demnach nicht erstaunlich. Wenn ein Mensch viel Arbeit oder eine einschneidende Veränderung zu bewältigen hat, braucht es weniger, bis das System zusammenbricht und eine noch massivere Stressreaktion entwickelt wird. Dies wäre unter anderem die Entwicklung von massiven Ängsten in sozialen Situationen bis hin zu einer Panikattacke. Auch nach dem Ausbruch einer Angststörung berichten viele Betroffene, dass die Angstsymptome verstärkt auftreten, wenn sie aufgrund äusserer Faktoren wie Beruf oder Partnerschaft gestresster und angespannter sind. In Phasen, in welchen Betroffene im Alltag weniger belastet sind, berichten sie hingegen oft von guten Tagen, an welchen sie weniger Angst haben, innerlich ausgeglichener sind und sich auch mehr trauen.
Der Zusammenhang zwischen allgemeinem Stress und einer erhöhten Wahrscheinlichkeit unkontrollierbare Ängste und Sorgen zu erleben, wird in der Psychologie oft anhand des sogenannten Stressmodells der Angst dargestellt (siehe Abbildung 1). Die Abbildung zeigt einen gelb schraffierten Bereich, der links das allgemeine Anspannungsniveau und rechts den chronischen Stress darstellt. Damit sind Anspannung und Stress gemeint, die wochen-, monate- oder sogar jahrelang ertragen werden müssen. Zu den Faktoren, die das allgemeine Stress- und Anspannungsniveau erhöhen, gehören zum Beispiel Mobbing am Arbeitsplatz, Umzug in eine andere Stadt, Partnerschaftsprobleme, Trennung/Scheidung und ihre Folgen, die Versorgung eines behinderten Kindes oder kranken Angehörigen, eine komplizierte Schwangerschaft, eine chronische Erkrankung, der Tod von nahestehenden Personen etc.
In Abbildung 1 ist im Weiteren eine rot gestrichelte Linie dargestellt. Sie stellt die Schwelle für die Auslösung von unkontrollierbaren und übertriebenen Ängsten und Sorgen dar. Ist die allgemeine Anspannung hoch, wird diese Schwelle schon durch eine geringe alltägliche Stresssituation überschritten (z.B.: Wenn Sie vergessen haben, die Herdplatte abzuschalten und das Essen angebrannt ist). Viele Betroffene erleben ihren ersten Angstanfall oder unkontrollierbare Sorgen im Rahmen einer Kombination von hoher allgemeiner Anspannung und alltäglichem Stress. Ist das allgemeine Anspannungsniveau niedrig, muss ein einzelner Stressor sehr viel stärker sein, damit unkontrollierbare Ängste oder Sorgen ausgelöst werden (siehe Abbildung 1 links).
Für die Behandlung bedeutet dies, dass neben der Bearbeitung der Angstmuster auch das chronische Stressniveau gesenkt werden sollte. Dies verringert die Wahrscheinlichkeit intensiver Ängste und führt dazu, dass Angstmuster besser kontrollier- und beeinflussbar werden. Deshalb ist es wichtig, dass Sie neben der Durchführung des Programms ebenfalls versuchen, Ihr allgemeines Stressniveau im Alltag zu verringern.